(Walliser Bote) Die angekündigte Katastrophe

Andreas Zurbriggen Walliser Bote  - 29. August 2015, S. 4.

Andreas Zurbriggen
Walliser Bote – 29. August 2015, S. 4.

Als am 30. August 1965 kurz vor dem abendlichen Schichtwechsel ein Teil des Allalingletschers abbricht und auf die Baracken der Arbeiter des Mattmarkstausees fällt, herrscht nach 30 Sekunden tosendem Lärm Totenstille. «Der Weltuntergang war eingetreten», erinnert sich der Überlebende Gianni Da Deppo. Mit den Händen versuchen diejenigen, die von den Eis- und Geröll massen verschont geblieben sind, ihre Kollegen unter der 50 Meter hohen Eisdecke lebend herauszuholen. Vergeblich. «Ich ging da hin, wo die Pumpen waren, fand ein Brett und hob es an – darunter lag ein Freund von mir, er war unversehrt, hatte nur ein paar weisse Striemen am Kopf. Aber er war tot, da war nichts zu machen», so Da Deppo.
Das Mattmarkunglück vor 50 Jahren war die letzte grosse Katastrophe der Schweiz. 88 Arbeiter – 86 Männer und zwei Frauen – fanden in der Falllinie des Allalingletschers den Tod. In vierjähriger Recherche arbeiteten die drei Forscher des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Universität Genf, Toni Ricciardi, Sandro Cattacin und Rémi Badouï, im Rahmen eines Schweizer Nationalfondsprojekts die Umstände wie auch die Folgen des Mattmarkunglücks heraus. Fremdenfeindliche Stimmung Die Studie, die auf Deutsch, Französisch und Italienisch erscheint, spannt einen weiten Bogen. In einem ersten Kapitel wird das Wallis sowie das Saastal vor dem Bau der Mattmark – Staumauer soziografisch untersucht: eine materiell arme Emigrationsregion, die erst durch «die Wasserkraft als Industrialisierungsfaktor» Potenzial ausschöpfen und relativen Reichtum generieren konnte. In einem zweiten Kapitel wird das Mattmarkprojekt vorgestellt, die jahrelangen Streitereien zwischen der Zürcher Elektrowatt AG, der Grande Dixence SA und der Lonza; das Leben und Arbeiten auf der Grossbaustelle wird porträtiert und die ausländerfeindliche Stimmung, mit der die sogenannten «Fremdarbeiter» konfrontiert waren, nachgezeichnet. Besonders gegen die Italiener, die grösste Migrationsgruppe, entwickelten sich teils heftige Ressentiments: «Im Allgemeinen hatten es die Italiener schwer in diesen Jahren, besonders wenn man in die Stadt ging, las man oft an den Türen der Lokale ‹Für Italiener verboten!›», schreibt der Soziologe Toni Ricciardi als Beispiel für Fremdenfeindlichkeit, die 1970 in der Überfremdungsinitiative von James Schwarzenbach gipfelte, welche vom Schweizer Volk mit 54 Prozent abgelehnt wurde. Ergreifende Einzelschicksale Das Unglück von Mattmark änderte auch die Wahrnehmung der Schweizer Bevölkerung gegenüber den Gastarbeitern, die zuvor als billige Arbeitskräfte toleriert, aber nicht geschätzt wurden.
«Die in Mattmark verunglückten ‹Fremdarbeiter› erlangten plötzlich den Status menschlicher Wesen, die Mitgefühl erregen schreiben die drei Forscher. Besonders geglückt ist das dritte Kapitel des Buches mit der Überschrift «Die angekündigte Katastrophe». In etlichen Interviews mit Überlebenden ist von ergreifende Einzelschicksalen zu lesen, bei denen immer wieder klar wird, dass in der Arbeiterschaft das Bewusstsein einer potenziellen Gefahr des Allalingletschers vorhanden war. Schon einige Tage vor dem Unglück lösten sich immer wieder einzelne Eisblöcke aus dem Gletscher und erreichten die Barackensiedlung. «Ich spürte, dass etwas Schlimmes geschehen würde. In diesen Tagen sagte ich zu allen: ‹Jungs, wenn diese Gletscherkruste sich löst, werden wir hier alle begraben.› Sie antworteten: ‹Du übertreibst.› Aber ich kenne mich aus mit den Bergen, ich weiss, wenn ein Gletscher von unten ausgehöhlt wird, kann man ihm nicht trauen. Und dieser Gletscher da, über unseren Köpfen, wurde dermassen ausgehöhlt, dass es jeden Tag furchterregender wurde», gab Giuseppe Gleber, Sohn einer Bergführerin und eines Skilehrers, kurz nach der Katastrophe der italienischen Zeitung «Domenica del Corriere» zu Protokoll.
Viele andere Gastarbeiter hingegen kamen aus schneearmen Regionen, die zum ersten Mal mit einem Gletscher konfrontiert waren und deswegen auch die Gefahren nicht richtig einschätzen konnten. «Prozess mit vorbestimmtem Ausgang» Das Mattmarkunglück hatte Auswirkungen auf Politik, Wirtschaft, Medien und die Arbeitssicherheit. Es beschleunigte Prozesse, die in dieser Zeit im Gange waren. Das Mattmarkunglück als Katalysator eines Wandels und als ein «Aufwachen», nachdem Etliches hinterfragt werden musste: Die Sicherheit auf Baustellen, der Umgang mit Gastarbeitern, die einen wesentlichen Beitrag zum wirtschaftlichen Aufschwung der Schweiz leisteten, oder auch die Einschätzung der Naturgefahren. Kritisch werden in der Studie auch die Medien unter die Lupe genommen (von den Walliser Zeitungen nur «Le Nouvelliste»). Auf medialer Ebene trug das Unglück zu einer neuen Entwicklung bei – «einen die Fehler der öffentlichen Politik anprangernden Journalismus». Besonders die italienischen Medien, die schon kurze Zeit nach dem Unglück am Ort des Geschehens waren, befanden sich in diesem Wandel, der Schweizer Journalismus verharrte laut der Studie noch in einer obrigkeitsloyalen Berichterstattung.
Zum Schluss der Studie werden die gerichtlichen Aspekte beleuchtet. Sieben Jahre nach dem Unglück wurden alle 17 Angeklagten freigesprochen. «Von einem Prozess mit vorbestimmtem Ausgang» sprechen die drei Forscher: «Obwohl die Untersuchungskommission auf die Pflichtverletzungen und vor allem die Fahrlässigkeit und Oberflächlichkeit hingewiesen hat, die der Unterlassung von Sicherheitsvorkehrungen zugrunde lagen, wurden (…) alle Angeklagten vom Tatbestand der fahrlässigen Tötung aufgrund der Unvorhersehbarkeit der Katastrophe freigesprochen.» Nach Kenntnisnahme der vom Journalisten Kurt Marti aufgearbeiteten Prozessakten und den in der Studie kondensierten Ergebnissen der Untersuchungskommission ist die Urteilsbegründung der Richter heute nur schwer nachvollziehbar. Sie schrieben nämlich: «Die Möglichkeit einer Eislawine ist zu abwegig gewesen, um vernünftigerweise in Betracht gezogen zu werden».